HDGDL

goszablumenkastenEs gibt Lieder, die man nie wieder vergißt. Man hört sie vielleicht jahrelang nicht, sie gehören aber trotzdem zum persönlichen Soundtrack und können zu entsprechenden Gelegenheiten abgerufen werden. Einer dieser Songs geistert inzwischen seit fünfzehn Jahren in meinem Musikboxkopf umher, er stammt von der insgesamt wunderbaren CD Beckett & Buddha, eins der schönsten Alben der frühen neunziger Jahre, nur leider kennt kaum jemand die Künstlerin. Barbara Gosza hat nicht nur schöne Lieder geschrieben, sondern singt diese auch großartig mit dunkler und doch klarer, emotionsgeladener Stimme. „Sometimes I like to hate you“, heißt es zu Beginn jenes Liedes, das ich so liebe (und das meine auch wirklich so), „sometimes I like to hate you, how much I long for you, how much away“, und damit ist die Misere schon gut angerissen, die schließlich in dem Kehrreim „Like a heartbeat you belong to me“ gipfelt. Denn ja, hier wird gar nicht wirklich gehaßt, der Haß ist nur Ausdruck unbedingter Liebe, und eigentlich bloß so dahin gesagt. Sie würde den Geliebten gerne hassen, aber das geht natürlich nicht, sonst wäre er ja nicht der Geliebte, der ihr so nah ist wie das eigene Leben. Vielleicht drückt sich hier aber auch die Unsicherheit einer frisch Verliebten aus, wenn die Zweifel zu wuchern beginnen während der quälenden Abwesenheit des begehrten Subjekts. Natürlich wächst Liebe eigentlich erst in der Entfernung, aber aus der Distanz wirkt vieles erstmal ziemlich klein. Bezeichnenderweise findet Gosza für die Liebe immer wieder neue Bilder, anstatt sie direkt zu benennen, „sometimes I long to touch you, how much I burn for you, how much away“, und selbst der Haß ist hier im Grunde bloß eine Metapher für das Lieben. Es scheint – und an dieser Stelle werde ich zum Sonntagsprediger und bitte dafür um Nachsicht – es fällt uns leichter, unseren Haß zu artikulieren als unsere Liebe. Ich selbst ertappe mich mitunter dabei wie ich sage, daß ich dies und jenes hasse, obgleich es mir im Grunde fast egal ist. Wenn ich sage, ich hasse Rosenkohl oder Sprühregen oder lange Wartezeiten oder Kamillentee oder Hundescheiße am Schuh oder Schnupfen oder Mario Barth, dann ist das nicht nur übertrieben, es ist sogar falsch. Ich verachte manches, es gibt Menschen, die ich hoffentlich nie wieder treffe, weil ich ihnen sonst gerne ins Gesicht spuckte, dies aber nie täte aus falschem Anstand oder aus Feigheit und deswegen eher in Selbsthaß ausbrechen müßte (was ich nicht täte). Ich hasse ja nicht mal Hitler oder irgendwelche lebenden Despoten, ich kann sie nur nicht ausstehen. Doch bin ich nicht der einzige, der den Haß zu leicht auf die Zunge nimmt. Da werden Kardinäle schon mal zackzack zu Haßpredigern erklärt, und eine Elektromarktkette behauptet: »Wir hassen teuer«, was schon formal fragwürdig ist, vom Inhalt ganz zu schweigen. Aber was soll man auch von Leuten erwarten, die Geiz früher geil fanden und jetzt gelernt haben, die Technik zu lieben? Doctor Strangelove läßt grüßen oder wie? Und auf der anderen Straßenseite behaupten sie ja seit Jahren, Hackklopse mit Eisbergsalat zwischen Weichschrippenhälften zu lieben. Kein Wunder, daß uns die wahren Emotionen abhanden kommen. Wir sind so was von powered by emotions, das wir wahrscheinlich schon Seitenstiche als Herzschmerzen fehlverstehen, so daß uns die Worte für wahre Gefühle längst suspekt vorkommen. Heute schreibt man HDGDL und wird von den meisten Leuten sogar verstanden, wenn auch von vielen nicht ernstgenommen. Da halte ich es doch lieber mit Barbara Gosza. Aber nicht einmal jenes unechte Hassen will mir gelingen, jedenfalls nicht derzeit, dafür ist in meinem Gefühlshaushalt gerade kein Platz frei. Und wäre ich wirklich ein Sonntagsredner an diesem schönen Oktobermontag, würde ich nicht versäumen, auf diese eine Stelle in Paulus’ ersten Brief an die Korinther hinzuweisen. Doch ich, als der, der ich bin, schaue mir lieber an, wie der Baum vor meinem Fenster seine Blätter verliert und erwäge, sie ihm wieder anzukleben. Einfach nur so und aus purer Lust am Leben.

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