Nicht meine Welt

reklameDa ist mir gestern doch der Bus weggefahren, was nicht schlimm war, weil ich sowieso zu früh dran war. Doof nur: Der Regen. Saß ich also in dem Wartehäuschen fest. Ich und die leuchtende Reklamewand. Fing ich an, mich mit dem Plakat zu beschäftigen. Nicht gerade ästhetisch das Ding, Männerhand, so mit Härchen auf den Fingerrücken, aber keine Pranke, eher so dünne Studentenfinger, mit Dreck unter den Nägeln. Nicht schön so was. Die Hand preßt ein Foto gegen behaarte Haut, Männerbrust. Das ist schon wieder sympathisch, diese ewige Epiliersucht der Unterdreißigjährigen macht mir Angst. Andererseits: Mann trägt ja durchaus Bart, Mode jetzt. Geworben wird für Welt Kompakt, Springerverlag, ist klar, mit diesem Bild und einem Spruch: »Wir telefonieren mit Mama und checken dabei Mails.« Abgesehen davon, daß das immer noch ›E-Mail‹ heißt und es, nur weil’s alle falsch sagen, nicht besser wird, wen meint dieses ›wir‹? Männer um die dreißig mit dreckigen Fingernägeln und Dreitagebart? Auf dem Foto ist eine weißhaarige Frau, Typ Großmutter, zu sehen. Es könnte die Omi sein von dem, der sich die Hände nicht richtig wäscht, was in Zeiten, in denen wir angehalten werden, in die Armbeuge zu rotzen, um andere nicht mit gefährlichen Oinkoinkvieren zu vergiften, grob fahrlässig ist. Daß der Springerverlag da mitmacht, pfui! Andererseits: Irgendwoher brauchen die ja ihre Grippetoten für die Panikmachseite. Wenn der Typ wirklich um die dreißig ist und seine Mutter, um die geht es hier doch, auch seine Großmutter sein könnte, erklärt das einiges, von wegen mangelnder Hygiene und nächtelang am Computer hängen, Wichsvorlagengegoogle, Pizzabringdienst, überall leere Bierbüchsen, Käsefäden auf der Tastatur, das kennt man ja, volles Programm sozusagen. Die späte Rebellion eines Dreißigjährigen, dessen Mutter schon über fünfzig war bei der Geburt, spätes Wunschkind, Vati war noch älter und ist natürlich schon längst tot. Immerhin hat er damals viel verdient, davon leben Mutti und Sohnemann noch heute. Letztes Jahr ist er ausgezogen, telefoniert aber täglich mit Mutti. Vielleicht erzählt er ihr sogar von seiner neuen Freundin, verschweigt ihr jedoch, daß er Sonnenblume83 noch nie leibhaftig gesehen hat, sondern nur nachts im Chatraum trifft. Mutti versteht das mit dem Internet sowieso nicht. Manchmal ruft sie ihn an, um ihn nach der Bedeutung von so Sachen zu fragen, von denen sie im Fernsehen erzählt haben. Sonntags besucht er Mutti immer. Es gibt sein Leibgericht, irgendwas mit Klößen, und dann schiebt sie ihm immer diese Artikel rüber, die hat sie in der vergangenen Woche aus der Morgenpost ausgeschnitten, weil sie glaubt, er würde sich dafür interessieren. Er hat seit Jahren schon nicht mehr in einer Zeitung aus Papier gelesen, ins Café geht er nicht, Bus fährt er allenfalls abends. Informieren kann er sich bei Spiegelonlein. Der Spiegel, der ist doch irgendwie kritisch. Von Muttis Morgenpostartikeln hat er noch nie einen gelesen, Morgenpost, die ist ihm viel zu piefig. Ähnlich wie die Welt. Und jetzt sitzt er an der Haltestelle, guckt auf das Plakat und fühlt sich irgendwie ertappt. Wollen die mit ihrer Kampagne etwas Leute wie mich erreichen? fragt er sich, das muß ja ‘ne nerdige Zeitung sein. Darüber müßte man mal twittern, denkt er. Aber da kommt schon der Bus. Er geht durch den Regen, stellt sie neben die Haltestelle, damit der Bus nicht vorbeifährt. Ich aber bleibe sitzen, fotografiere das Plakat. Vielleicht schreibe ja ich was darüber. Und meine Mutter sollte ich auch endlich mal wieder anrufen.

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