Ein herrlicher Sommerdonnerstagabend und selbst das Rauschen der nahen Schnellstraße wirkt fast maritim. Auf der großen Wiese inmitten des Weinguts des Barons zu Knyphausen im beschaulichen Erbach bei Eltville sind Zelte aufgebaut, die meisten, um vor möglichem Regen zu schützen, was unnötig ist, denn der tiefblaue Himmel ist wolkenlos. Es gibt einen Essensstand, betrieben von der sogenannten ›Diktatur des Geschmacks‹. Der Name ist Programm, der Anspruch ›Hausmannskost goes Lifestyle‹ dagegen eher nicht. Es gibt nämlich Hotdogs in großen, labbrigen Brötchen mit Eisbergsalat und Streukäse. Und das ausschließlich. Vegetarische Alternativen sind nicht vorgesehen, man kann aber gern auf die Wurst verzichten, bei gleichem Preis.
Am Getränkestand gibt es hauptsächlich Wein, was auf einem Weingut sinnvoll ist, wer da Bier bestellt, dem ist sowieso nicht geholfen. Man kann ihn glasweise kaufen oder gleich eine ganze Flasche. Baron zu Knyphausen benennt einige seiner Weine nach seinen fünf Söhnen. Einer heißt Gisbert. Den gibt es als Riesling und als Pinot noir. Und es gibt ihn, also Gisbert zu Knyphausen, nicht den Wein, auf CD. Seine erste habe ich im letzten Sommer beinahe ausschließlich gehört. Gestoßen bin ich auf ihn, weil der Rolling Stone mein Buch besprochen hat, weshalb ich im Zeitschriftenladen darin blättern wollte. Ging aber nicht, denn das Heft war eingeschweißt wegen einer Beilagen-CD mit einem Konzertmitschnitt Gisberts. Ich begann, mich mit seiner Musik zu beschäftigen, war begeistert von seinen Texten, wie seit langem nicht mehr.
Denn natürlich waren ich und die gut achthundert anderen nicht wegen des Weines oder des schönen Ambientes nach Erbach gekommen. Jedenfalls nicht zuvorderst. Auf der Mitte der Wiese stand ein Pavillonzelt mit einer niedrigen Bühne, vollgestellt mit Instrumenten. Gisbert gab sein alljährliches Heimspiel, und aus ganz Deutschland waren die Freunde seiner Musik sowie Familie gekommen, um ihm und seiner grandiosen Band an diesem wunderschönen Sommertag zuzuhören. Zwischendurch brachte ihm seine Oma ein Glas Wein, und Gisbert bat um einen Applaus für die zarte weißhaarige Dame, ohne die »wir heute alle nicht hier wären«. Die Oma lächelte selig, und alle anderen auch.
Das ist die Kunst Gisberts: Lieder zu schreiben, die fröhlich stimmen, so trübsinnig ihr Inhalt mitunter ist. Nicht zufällig verspricht er der Melancholie, daß sie ihn nie kleinkriegen werde. Das Konzert beginnt er dann auch gleich mit einem, wie er sagt, besonders melancholischen Song, dann haben wir es hinter uns. »Herzlichen Glückwunsch / Du hast alles verloren«. In Sommertag beschreibt er das lähmende Gefühl, nie wieder aus dem Sessel hochzukommen, in dem man es sich bequem gemacht hat, doch kaum klingelt das Telefon, ist man rasend schnell am Apparat – vielleicht wird man ja gebraucht. Und sowieso, wenn man sich einmal mit dem Dasein abgefunden hat, ist es eigentlich ganz schön. Eben wie ein wunderschöner Sommertag.
Gisbert zu Knyphausens Melodien sind leicht und sehr eingängig, die Arrangements nicht zu soft. Wer ihn mit Reinhard Mey vergleicht, den ich durchaus schätze, sieht nur die Gitarre und hat zudem was an den Ohren. Die ersten zwei deutschsprachigen Platten von Element of Crime sind ähnlich, und trotzdem ganz anders. Sven Regner begegnete der Schwermut zwar mit Humor, bloß ist der leicht zu überhören und dann wirken die Songs mitunter bräsig. Statt Ironie kommt bei Gisbert eine latente Fröhlichkeit zum Zuge. Selbst im Trennungsschmerz erinnert er sich an das Lachen der Verflossenen und bittet sie, dieses Lachen bei sich zu tragen, wenn sie geht, »ich mag es sehr«. Manchmal ist er dann auch tieftraurig und untröstlich. Wenn jemand stirbt, na klar. Wobei, ganz am Ende von Seltsames Licht heißt es: »Aber wir sehen uns wieder ganz bestimmt. / Irgendwann.«
Gisbert, der »Freund von Klischees und funkelnden Sternen«, hat so seine Schwierigkeiten mit der Schwerkraft. Wo ist oben, wo unten? Singt Gisbert, nimmt er uns die Flugangst, auf daß uns allen wunderbare Flausen aus dem Kopf wachsen.
Das Konzert ist vorbei, aber keiner mag gehen. Es ist auch noch reichlich Wein da. Und am Himmel funkeln die Sterne. Es ist kühl geworden, am Ende eines Sommertages im Rheingau.
Selbst die skeptische adlige Verwandtschaft zeigt sich zufrieden. Am Imbißstand höre ich jemand hinter mir sagen, sie alle seien ja heilfroh, daß aus dem Gisbert doch noch was geworden sei.
Neuerdings wohnt Gisbert zu Knyphausen nach einigen Hamburger Jahren wieder in Berlin. Und am Freitag gibt er ein Konzert im Heimathafen Neukölln. Hingehen! Das ist ein Befehl.