Neben der Einrichtung für Suchtkranke befindet sich der örtliche Weinladen, und beides liegt vis-à-vis dem Haus für Schriftsteller, in dem ich derzeit wohne. Wenn das mal kein Zeichen ist. In der Küche steht eine klebrige Flasche mit Johannesbeerschnaps, den Frau Keyn, die Haushälterin, regelmäßig ansetzt. Mitbewohner Achim sagt, er habe nach Genuß von zwei Gläschen dieses bonbonsüßen Getränks letzte Nacht besonders tief geschlafen. Aber heute war ja auch Sonntag und niemand auf den Straßen, die beiden benachbarten Edekas wurden nicht beliefert und niemand parkte nebenan, um einkaufen zu gehen und sich lautstark über das Wetter zu unterhalten. Nein, heute war es wirklich sehr ruhig. War ja auch kein angemessenes Wetter, laut grölend durch das Dorf zu ziehen. Das tut man hier ohnehin eher am späteren Samstagabend. Gestern Nacht hörte ich nämlich zwischenzeitlich Schreie, bei denen ich nicht wußte, ob ich die Polizei rufen sollte oder gleich den Notarzt. Andererseits konnten die zirka tausend Einheimischen das sicher auch hören und die Brisanz der Schreie gewiß besser einschätzen. Wahrscheinlich war es wirklich nur jugendlicher Übermut.
Den derzeitigen Temperatureinbruch nennt man ›Schafskälte‹. Die heißt so, weil diese Tiere Anfang Juni bereits geschoren sind und nun unter dem Kälteeinbruch besonders zu leiden haben. Deshalb bin ich heute zu dem Deichabschnitt gefahren, der gerade von den Schafen kurzgefressen wird, um mal nachzufragen. Alles, was ich zu hören bekam, waren vereinzeltes Böhs. Besonders glücklich sahen die Schafe zwar nicht aus, aber sie nahmen die kühle Luft relativ gelassen und fraßen lieber Gras. Es gibt ja auch Schlimmeres. Zum Beispiel, daß der ganze Deich vollgekackt ist. Alles ist nämlich voller Schafscheiße gewesen, auch der Weg, da gab es kein Entrinnen. Rauf aufs Rad – und durch! Gut, daß ich kein Gras esse.