Es ist Freitag, wir liegen auf verschwitztem Laken. Weil Rieke mit dem Fuß nun doch den Knopf am Fernseher getroffen hat, kann die Welt in das abgedunkelte Zimmer suppen. Die Fernbedienung funktioniert mal wieder nicht, die Batterien wollte ich längst ersetzen, und so gucken wir die Tagesschau, Mittagsausgabe, die uns berichtet, was wir auch so schon wußten: Der Kanzler hat heute sein Vertrauen verloren, vor allem das der anderen. Er hat keine Lust mehr, vielleicht weiß er wirklich nicht weiter und will sich daher ein Jahr vor dem regulären Wahltermin vom Volk abwählen lassen; das zeugt nicht gerade von Verantwortungsbewußtsein. Hat der Schröder nicht früher Fußball gespielt? Da muß man doch auch neunzig Minuten durchstehen. Verlängerungen sind möglich, Verkürzungen dagegen unüblich. Ich könnte mit Rieke darüber reden, weil wir, wenn wir nicht gerade ficken oder träumen oder uns bedeutungsvoll anschweigen, sowieso die ganze Zeit reden über uns und die Welt, denn wir sind jung, und wir haben Zeit und ganz guten Sex, weshalb ich auch gerade keine Lust habe zu reden, schon gar nicht über Politik. Ich lasse mich lieber berühren, anfassen, begrabschen von Riekes Händen auf meiner Bauchhaut. ›Acker‹ sollen sie den Schröder früher auf dem Bolzplatz gerufen haben. Das ist lange her, lange vor unserer Zeit. Früher hätte er das Spielfeld gewiß selbst dann nicht verlassen, wenn sein Team gerade eine derbe Klatsche kassierte. Niemand nannte Schröder Ackerkanzler, höchstens Spaßkanzler, was auch schon eine Weile her ist. Der Kanzler bei ›Wetten, dass…?‹, der Kanzler mit Zigarre in teurem Zwirn, der Kanzler sagt: Regieren macht Spaß; der Kanzler, der lacht. In der Küche von Riekes WG hängt ein Foto, auf dem Schröder mit einem Glas Bier in der Hand offenbar lauthals lacht. Dieses Lachen scheint ihm vergangen zu sein. Wir haben verstanden, hat er gesagt, als die SPD bei der Europawahl Punkte verlor, das muß neunzehnneunundneunzig gewesen sein, aber wer hier wirklich was verstanden hat, weiß heute keiner mehr. Heute sieht man Schröder neben Fischer auf der Regierungsbank sitzen wie bei einer Trauerfeier. Rotgrün wird zu Grabe getragen, Regieren macht wohl doch nicht so viel Spaß. Ich dagegen habe Spaß, gerade sogar besonders viel Spaß, auch wenn Rieke und ich seit bestimmt fünfzehn Stunden nicht anderes getan haben, als abwechselnd miteinander und nebeneinander zu schlafen. Der Kanzler sagt, das Volk solle durch Neuwahlen die Richtung bestimmen. Die Kandidatin verhaspelt sich, der Außenminister bekeift die Opposition, ein Abgeordneter der Grünen kündigt eine Klage gegen die Neuwahlen an, er fürchtet wohl um seine eigene Zukunft. Verfassungsrechtler bezweifeln, ob das Mißtrauensvotum gilt, ein Reporter spricht von Plausibilität, von beschränkter Handlungsfähigkeit, ich aber gebe nur Töne von mir, die Rieke zeigen sollen, wie sehr ich das mag, was ihr Mund nicht sagt, sondern tut. Dabei waren es vor allem ihre Worte, die mich verliebt gemacht haben, damals, vor gut einem Jahr, als wir ständig irgendwo hingegangen sind, wo man was zu gucken hatte, bloß nicht einander in die Augen, wo man zuhören konnte, und manchmal sogar den eigenen Worten, leise dazwischengeflüstert, ein Kommentar im Kino, nicht immer verstanden, akustisch, und trotzdem bekichert, schon wegen des warmen Kitzelns am Ohr. Jetzt kitzelt was anderes, und das ist gut zu verstehen, in Ankara wurde ein mutmaßlicher Terrorist erschossen, wir hören gar nicht zu, und ich greife nach Riekes Kopf, ich kann mich nicht an ihrem Haar festkrallen, weil das viel zu kurz ist, Zeichen einer Radikalität, die längst versunken ist im Schlamm meiner Matratze, und jetzt muß ich wirklich stöhnen, und Riekes Mund saugt fester, und dann ist da wieder dieses Gefühl, das wahrscheinlich das höchste von allen ist, da langt das der Geborgenheit nicht heran, und auch wenn es im Grunde stets gleich bleibt, festgelegt im Erbprogramm als Bestätigung maskuliner Zeugungskraft, muß Mann es immer wieder haben, steigt etwas hinauf, drängt etwas hinaus, und die NASA schickt Astronauten ins All, und ich und ich und ich und. Morgen wird das Wetter wieder besser. Riekes Mund schmatzt. Morgen beginnt die Tour de France. Riekes Kopf kommt höher, küßt mich, ich schmecke die salzigen Reste meiner inneren Erdigkeit, und wir spielen Grimassenpingpong, bis Rieke ihre Gesichtszüge in meinen Hals drückt. Wir schmiegen uns aneinander fest und gestatten einer Arztserie, uns in den Schlaf zu streicheln, so schwierig das auch ist bei der übertriebenen Ausdrucksweise der Akteure. Manchmal denke ich wirklich, in einen Groschenroman geraten zu sein, in einen, in dessen Verlauf die Währung geändert wurde, und wir waren gerade zu sehr mit uns selbst beschäftigt, um es mitzubekommen. Wir sind schön und klug und verdammt faul, aber weil wir das erkannt haben, läßt sich das einigermaßen ertragen.
Auszug aus:
Thilo Bock: Die geladene Knarre von Andreas Baader. Historischer Gegenwartsroman. Verlag Kiepenheuer & Witsch. ISBN 978-3-462-04082-1. 475 Seiten.
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