Dienstag war in Krakau wohl der letzte richtige Sommertag. 32°C im Schatten. Doch dort, wo ich Dienstag hingefahren bin, gibt es keinen Schatten, obwohl ein metaphorischer Schatten für immer über diesem Ort liegen wird. Denn Dienstag war ich in Birkenau. Manche müssen bei diesem Ortsnamen kurz nachdenken, nicht so wie bei Auschwitz. Auschwitz ist der Inbegriff des Bösen, aber die Vernichtung fand in Birkenau statt.
Dienstag war ein schöner Tag. Man hätte im Biergarten sitzen können oder am Badesee, wir jedoch wussten bereits seit zwei Wochen, wo wir den Tag verbringen würden – egal bei welchem Wetter. Tickets für Auschwitz sind begehrt, die bucht man vorher. Dark Tourism nennt sich das heutzutage.
Tatsächlich sollte zumindest jeder Europäer einmal in seinem Leben diesen Ort besucht haben, weil er für die größte europäische Katastrophe der Neuzeit (wenn nicht aller Zeiten) steht.
Ohne die Shoah sähe sehr vieles heute anders aus. Nicht wenige von uns Nachgeborenen wären nicht auf die Welt gekommen, weil sich die Wege unserer Eltern gar nicht gekreuzt hätten. Und wer versuchen sollte, Weltkrieg und Judenvernichtung voneinander zu trennen, erkennt spätestens in Birkenau, dass hier das Ziel des deutschen Hasses lag. Hier endeten die Gleise aus fast allen Ländern des Kontinents. Auf denen wurde die deutsche Kultur, verladen in Viehwaggons, ins Gas geschickt. Natürlich nur stellvertretend. Sterben mussten über eine Million Juden, Polen, Russen, Sinti und Roma, Andersdenkende, Behinderte, Homosexuelle, sogenannte »Untermenschen« eben, bloß weil eine kleine Gruppe (und mit ihnen ein ganzes Volk) unter einem enormen Minderwertigkeitskomplex litt.
Die millionenfachen Leiden, die sich in den deutschen Konzentrationslagern abgespielt haben, sind schwer vorstellbar. Selbst wenn man vor Ort ist. Selbst wenn man die Berge von Haaren Tausender sieht. Ihre Schuhe, ihre Koffer, ihre Habseligkeit, die ihnen entrissen wurden wie auch ihre Würde.
In einem der Gänge, die man im Rahmen der obligatorischen Führung entlangeilt, hängen unzählige Fotos Todgeweihter. Diese Menschen sind bereits vielfach gedemütigt worden. Gerade hat man sie in Sträflingskleider gesteckt, den meisten auch die Haare geschoren, und nun werden sie aus dokumentarischen Gründen fotografiert – immerhin von einem der ihren, dem Häftling Wilhelm Brasse. Ihm ist gelungen, den Porträtierten ein letztes Mal so etwas wie Würde zu verleihen. Die Erschöpfung ist ihren Gesichtern anzusehen. Trotzdem sehen wir hier Menschen. Menschen, die sterben sollen, weil sie in die Hände rassistischer Massenmörder gefallen sind. Diese bewegenden Zeugnisse des Grauens sind beklemmend. Noch beklemmender jedoch ist das Porträt einer jungen Frau, die in die Kamera lacht.
Die Fotos dieser Menschen müssen betrachtet werden. Mich wundert, dass es keine Seite im Netz gibt, die sie zeigt. Die Berichte der Überlebenden müssen angehört und gelesen werden, und dennoch ist die Fahrt nach Birkenau unvermeidlich. Erst hier erkennt man die Ausmaße des Wahnsinns. Von den Baracken stehen kaum noch welche. Umso mehr wirkt Birkenau wie eine Leerstelle der Menschlichkeit.
Immer wieder ist zu lesen und zu hören, dass Auschwitz verkommen ist zu einem touristischen Ort, zum Ziel von Vergnügungsreisen ins Grauen, wo Selfies vor der Todeswand gemacht werden. Ich habe das nicht so erlebt. Anfängliche Juxe, ob man statt von einer deutschen Führung lieber von einer arischen sprechen sollte, verstummten rasch. In allen Gesichtern spiegelte sich Betroffenheit. Ob man am Tag eines solchen Ausflugs wirklich ein T-Shirt des Hard Rock Café Hamburg anziehen sollte, ist allerdings ähnlich fraglich wie die Tatsache, dass mehrere aus der Gruppe ihr klingelndes Telefon nicht verschämt ausgeschaltet, sondern den Anruf auch noch angenommen haben. Du, ich bin in Urlaub, ja, das Wetter ist schön. Allein den augenblicklichen Aufenthaltsort behielt man besser für sich. Das könnte die Stimmung der Arglosen am anderen Ende verderben.
Auschwitz war, ist und bleibt eine Schande. Und ich werde wütend, denke ich an die Nachrichten der letzten Tage und Wochen, an brennende Flüchtlingsheime, an Laster mit Leichen, verzweifelte Menschen auf Kos und vor dem Budapester Hauptbahnhof, an die vielen im Mittelmeer kenternden Boote und an satte Deutsche mit dummen Parolen auf Lippen und in Gedanken.
Dieser Text bleibt ohne illustrierende Foto. Am Dienstag habe ich meine Kamera in der Tasche gelassen. Dabei war wirklich ein wunderbarer Sommertag. Leider bin ich am Dienstag in den dunklen Keller meines Heimatlandes gestiegen. Die Tür dorthin dürfen wir nie zuschlagen. Und wir dürfen vor allem niemals zulassen, dass das irgendwer versuchen könnte.