Senatsreserve

Reinickendorf, nördlicher Stadtrand von Westberlin, ein knappes Jahr vor dem Mauerfall: Karsten Grube ist 20 Jahre alt, in die Mutter seiner Freundin verliebt und seit kurzem Praktikant des abgerissenen Lokalreporters und Kettenrauchers Martin Horn, der im Alleingang ein Anzeigenblättchen für das Märkische Viertel erstellt.
Gelangweilt von ihrem journalistischen Alltag stoßen die beiden auf den skandalträchtigen Fall des von den Bewohnern der Trabantensiedlung so sehnsüchtig erwarteten Ausbaus der U-Bahnlinie 8.
Bei ihren Recherchen geraten Horn und Grube in das zwielichtige Herz der Halbstadt. Dabei verheddern sie sich in einem Netz aus Versuchung und Verbrechen. Der Ausweg könnte tief unter der Erde liegen – im geheimen Bergwerk von Westberlin.
Eine Pulpgroteske, ein humorvoller Entwicklungsroman und Krimi mit angezogener Handbremse!

Leseprobe:

[…]

Andererseits gab ich nie viel auf das, was Mutter sagte oder machte. Spätestens nachdem ich herausfand, wie andere Mütter kochten, fing ich an, mich von meiner zu distanzieren und ging nach der Schule lieber mit zu meinem besten Freund Axel. Dessen Mutter wußte nämlich, was sie tat, wenn sie sich an den Herd stellte. Meine war lediglich dazu fähig, Tüten aufzureißen und Dosen zu öffnen. Am liebsten griff sie zu Restbeständen aus der Senatsreserve. Mein Vater arbeitete dort, das heißt, er tut das weiterhin. Inzwischen ist er hauptsächlich damit beschäftigt, etwas zu verwalten, worauf die Stadt längst verzichten kann: Vorräte für den Krieg, den Ernstfall, für die nächste Berlinblockade.
Jetzt, da die Mauer gefallen ist und die DDR nicht mehr das ist, was sie noch letztes Jahr war, und man auch dort mehrheitlich CDU wählt, muß man sich nicht mehr eindecken für schlechte Zeiten. Obwohl mein Vater davon nach wie vor nicht komplett überzeugt ist, macht er sich allmählich Gedanken um seine berufliche Zukunft. Als Soldat des kalten Krieges schiebt man ihn auf Eis. Immerhin: Einbrechen wird er nicht. Er ist verbeamtet.
Trotzdem ist ihm seine Arbeit Lebensaufgabe. Er und seine Kollegen waren Jahrzehnte lang die wichtigsten Menschen der Halbstadt, zumindest ihrem Selbstverständnis nach. Sie sind die Hüter der Kornkammern. Ein halbes Jahr hätten sie uns versorgen können und das nicht nur mit Dosenfleisch und Trockenobst. An mehreren hundert Stellen lagert bis heute alles, womit man eine Zweimillionenstadt am Leben hält: Notrationen für die Kriegsdiät und darüber hinaus, Brennstoff und Benzin, Medikamente und Verbände, Tampons und Klopapier, Futtermittel für den Zoo, Zigarren, Marmelade, sogar Chlor, um in der Krise nicht die Schwimmbäder schließen zu müssen. Manches ließ sich schlichtweg schlecht per Flugzeug transportieren, zuvorderst Salz. Das hatte die Instrumente der Rosinenbomber angegriffen, weshalb die Amis Anfang der fünfziger Jahre zwanzigtausend Tonnen Speisesalz nach Berlin verschiffen ließen. Und so fing man an, alles Erdenkliche einzulagern.
Als ich klein war, beeindruckte mich, daß mein Vater Probleme mit feindlichen Geheimdiensten kriegen könnte, wenn ich mich verplapperte. Er war Geheimnisträger. Für ihn bestand die Gefahr, vom Osten entführt zu werden. Das war wie bei James Bond, den ich lange nur dem Namen nach kannte. Mit der Inventarisierung der Senatsreserve leistete Vater einen aktiven Beitrag zur Abwehr der roten Gefahr. Mich machte das stolz. Und obwohl Vaters Wissen strengster Geheimhaltung unterlag, seine Familie war informiert. Bei langweiligen Spaziergängen durchs Fließtal oder den Tegeler Forst spielten wir auf Vaters Anregung hin unser Spiel: Ich bevorrate meine Stadt und lagere dafür ein. So lernten wir nach und nach sämtliche Güter für den Notfall kennen. Ich bevorrate meine Stadt und lagere dafür Heringsfilets in verschiedenen Tunken ein. Ich bevorrate meine Stadt und lagere dafür Heringsfilets in verschiedenen Tunken und Anzuchttöpfe ein. Ich bevorrate meine Stadt und lagere dafür Heringsfilets in verschiedenen Tunken, Anzuchttöpfe und Ammoniak ein. Ammoniak? Kerstin sah Vater an. Das müßtest du wissen, sagte er, Ammoniak ist wichtig, um die Kühlhäuser weiter betreiben zu können. Habt ihr jetzt Fischstäbchen? Meine scherzhaft gemeinte Frage wurde mit einem grimmigen Blick quittiert. Gekühlt werden müßten, so Vater, die Leichen in den Krematorien. Unpaniert, versteht sich.
Na dann, sagte Kerstin, ich lagere Heringsfilets in verschiedenen Tunken ein und Anzuchttöpfe und Ammoniak und Kartoffelpürreepulver. Jetzt Mutter: Ich bevorrate meine Stadt und lagere dafür Heringsfilets in verschiedenen Tunken, Anzuchttöpfe, Ammoniak, Kartoffelpürreepulver und Filzpantoffeln ein. Torfmull, dachte ich und begann die Anfangsformel aufzusagen. Halt, Moment! beendete Vater das fröhliche Spiel, was bitte willst du einlagern? Torfmull. Vater achtete gar nicht auf mich. Statt dessen sagte er, Pantoffeln wären bereits seit den Siebzigern nicht mehr auf Lager.
Dann eben keine Pantoffeln, sagte Mutter, dann lagere ich eben Sultaninen ein. Kannst du noch mal alles wiederholen? bat Kerstin. So geht das nicht! Vater wischte seine sorgfältig über die Glatze gelegten Haare durcheinander. Bloß weil du wieder mehr weißt als wir! mischte ich mich ein. Das ist gar nicht wahr, sagte Vater, ihr alle tragt Filzpantoffeln aus der letzten Wälzung. Schlimm genug, murrte Kerstin. Dann müßte euch klar sein, daß wir die nicht mehr haben! Vater sprach so laut, daß uns entgegenkommende Spaziergänger interessiert musterten. Karsten und du, Mutters Stimme klang belegt, ihr tragt ja auch Straßenschuhe aus der Reserve und trotzdem sind nach wie vor welche vorrätig. Pantoffeln wurden keine neuen angeschafft! brüllte Vater.
Das kann man schon mal vergessen, wenn im eigenen Keller weitere zwanzig Paare rumstehen, gab Kerstin zurück. Hast du was dagegen, daß ich vorgesorgt habe? sagte Vater wieder deutlich leiser, das sind 1a Hausschuhe. Na ja, murmelte Kerstin. Was gibt’s denn an den Pantoffeln auszusetzen? Vater blieb stehen, die sind ordentlich und bequem. Schön sind sie nicht, sagte Kerstin ohne anzuhalten. Mit Schönheit gewinnt man keine Kriege, murmelte Vater. Außer mir hatte das keiner gehört. Wobei. Ich betrachtete die vom Spazierweg aus gut zu sehende Mauer und fragte mich, ob die DDR die Gespräche der Vorbeiflanierenden wohl mit Richtmikrofonen abhörte, denn dann hätten sie ja gerade bahnbrechend neue Erkenntnisse gewonnen. Dem Klassenfeind könnten die Pantoffeln ausgehen. Vater setzte sich wieder in Bewegung, unablässig vor sich hin murmelnd. Spielen wir weiter? fragte Mutter. Ich las im Gesicht meiner Schwester, daß sie wenig Lust dazu hatte. Mir ging es ebenso. Natürlich spielen wir weiter, sagte Vater, und du bist draußen, Mutti.
[…]

aus: Thilo Bock: Senatsreserve. Ein Provinzroman. Gebundene Ausgabe. 320 Seiten. Frankfurter Verlagsanstalt. 2011. ISBN 978-3-627-00178-0. S.58-51.

Und hier liest der Autor Stellen aus dem Roman:

http://bambuser.com/v/2119151

Live am 11.11.11 im Rahmen des Live Art Festival EXCHANGE RADICAL MOMENTS! bei Babusch.

Pressestimmen:

»Unterhaltungsliteratur mit Anspruch, ein kurzweiliges Lesevergnügen« (Dennis Grabowsky, Der Tagesspiegel)

»Ich habe das Buch unglaublich gern gelesen.« (Jakob Hein, Radio Eins)

»Ich habe beim Lesen viel gelacht.« (Nina Wehner von Die Buchkönigin in der Berliner Morgenpost)

»sprachwitzige, amouröse Pulp-Geschichte- ein Schundroman im besten Sinne« (Philipp Haibach, Welt Kompakt)

»ein großer Spaß« (Ulrike Bieritz, Inforadio)

»eine Liebeserklärung an das Berlinerische in all seinen Verzweigungen oder Soziolekten« (Fanny Schulz, Am Erker, Juli 2017)

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