ROLLFELD
Oder anders. Mehr Himmel als Feld. Himmel überm Feld. Der sich voller Wolken zog. Unser Gras-Asphalt-Platz gab ein phantastisches Panorama frei auf die aufziehende Katastrophe. Oder anders. Es sah stark nach Regen aus. Oder anders. Der Sohn von JFK ließ seinen Pfandflaschenwagen scheppern, gefolgt von Onassis IV., schwanzwedelnd. Oder anders. Sie stand weit vorn auf ihrem Board und umkurvte in gemächlichem Slalom die Schlendernden. Oder anders. Das Brausen, das Knattern, das Sausen der Motoren. Alle drei Minuten, zack, und noch eine. Und noch eine und noch eine. Oder anders. Das Bier in der Hand, im Beutel Club-Mate. Vom Vintageversand die Desiderate.
De|si|de|rat, das; -[e]s, -e [lat. desideratum = Gewünschtes]: 1. (Fachspr.) zur Anschaffung in Bibliotheken vorgeschlagenes Buch. 2. (bildungsspr.) etw., was fehlt, was nötig gebraucht wird; Erwünschtes: ein D. der Forschung.
Oder anders. Nicht die Bücher, nach denen man lange sucht, enthalten unerwartete Wahrheiten. Oft sind es lose Seiten, die einem von irgendwoher in die Hände flattern und auf denen etwas zu lesen ist, das einen völlig neu suchen lässt. Oder anders. Bei seiner Eröffnung galt der Flughafenbau als das größte Gebäude der Welt. Nur das Pentagon in Washington ist heute flächenmäßig größer. Es gibt drei Kellergeschosse, aber keine geheimen unterirdischen Hallen, nichts Verschollenes aus dem letzten Krieg und erst recht kein Bernsteinzimmer. Oder anders. Sie kamen, die Stadt urbar zu machen, ihre Samen in den trockenen Sand zu drücken, zu düngen und zu gießen, auf dass, was da komme, knospe und sprieße. Oder anders. Das silbergraue Flugzeug stand startklar vor den Holzbaracken. Oder anders. Die große, gelblich graue Gestalt im kuttenartigen Gewand mit dem groben Gesicht sah mich staunend an, und mir war für einen Augenblick des Atemholens, als würde ich meine Erinnerung verraten. Oder anders. Der rasende Reporter gab nicht auf und fahndete unermüdlich weiter nach der einen Person, die mehr zu sagen hätte als bloßes Blabla. Oder anders. Hilflos lungerten die gegenwartsgeschädigten Multitaskingopfer auf ihren karierten Schurwolldecken und sahen zu, wie ihr praktischer Einweggrill für die spontane Grillparty im Freien spontan in Flammen aufging und das Biogrillgut in praktische, vom Winde verwehbare Asche verwandelte. Oder anders. Angespornt vom Jubel der am Boden Zurückgebliebenen stieg das Luftschiff höher und höher, zog ruhig seine Bahn gen Südwesten, als ein Aufschrei durch die Menge ging. Aus der Gondel schoss eine Flamme auf zum Ballon, der sofort Feuer fing und explodierte. Oder anders.
Oder anders.
Oder anders.
Oder wie sie mir im Schneesturm gegenüberstand. Die Wärme ihrer Augen. Auf meinen Lippen die Erinnerung an den einen Kuss. Warten auf Umarmung im eingefrorenen Paradies Tempelhof. Das Rauschen der Stille in den Ohren. Und über den Dächern hinter ihr die Lichter eines Flugzeugs, vollgepackt mit Wünschen und Ängsten.
Auszug aus: Thilo Bock: Tempelhofer Feld. Ein Freiluftroman.
208 Seiten, gebunden.
Verlag Fuchs & Fuchs, ISBN 978-3-945279-01-4
€ 17,00 [D]
Auch als E-Book erhältlich.
Das »in Kreuzberg, Neukölln und Tempelhof meistverschenkte Buch« (Berliner Zeitung, 14.12.2017).
Ich empfehle den Kauf im Buchladen des Vertrauens.
Einen längeren Auszug gibt es bei der Jungle World.
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