Inneres Frösteln

Auch wenn die Sonne scheint – mich fröstelt’s. Ich drehe die Heizung auf Anschlag und bibbere dennoch. Ich höre Nachrichten und wundere mich. Ich durchstreife die weltweite Virtualität und fürchte mich. Ich lese Botschaften aus Licht und ärgere mich. Da werden Steuererleichterungen verkündet, während vorm Bundesverfassungsgericht diskutiert wird, wie viel Geld ein Mensch braucht, um am sozialen Leben teilnehmen zu können. Ein Parteichef, der sein Glück immer noch nicht zu fassen scheint, freut sich, verkünden zu dürfen, daß die sogenannte Schonvermögen erhöht werden. Hartz IV-Empfänger dürfen also mehr Erspartes behalten als bisher. Die Regelung kann ja aber nur zukünftige Exarbeiter betreffen. Wer das bereits ist, bei dem kann nichts mehr geschont werden, denn alles ist schon weg. Die Demnächstregierung trifft damit Vorkehrungen für die anwachsende Arbeitslosenmeute. Ein Versandhaus schließt die Schalter und sendet weitere Bittsteller in die Kälte. Doch was haben sie schon als Hilfe zu erwarten, wo sie doch schon Ihr Erspartes behalten dürfen? Und die Putzkolonnen, die der Abgeordneten Dreck wegräumen, streiken, man verweigert ihnen circa siebzig Cent Lohnerhöhung. Derweil freuen sich die Bosse der Energiekonzerne. Sie müssen ihre Atomkraftwerke nicht vom Netz nehmen und dürfen weitere Milliarden einstreichen. Wie sinnlos war all die Arbeit, waren all die Diskussionen um den Ausstieg. Wie nutzlos waren die Fördergelder für regenerative Energiegewinnung. Diese jungen Firmen ohne Lobby werden von der Regierung, von unser Klimakanzlerin mit dem eisigen Lächeln im schneidenden Wind stehen gelassen. Nach ihr und ihrem Gefolge kommt sowieso die Sintflut aus abschmelzendem Eiswasser, auf daß sich die nach uns Kommenden mit unserem Müll in den Endlagern auseinandersetzen können. Wir vergiften die Zukunft. Ich finde das höchst unanständig. Ich bin besorgt und verwundert.

Fünfundsechzig Prozent aller Berliner Bahnfahrenden sind seit der Eröffnung des Hauptbahnhofes länger unterwegs. Man bräuchte nur die Fernzüge wieder am Zoo und auch am Alexanderplatz halten zu lassen, doch hat die Bahn den Händlern am Hauptbahnhof versprochen, daß man die Reisenden an ihren Läden vorbeiführt. Denn ja, dieser Bahnhof ist nicht nach dem Prinzip der schnellen Wege gebaut worden, hier geht es nicht um die Kunden, es hängen ja nicht mal ausreichend Uhren dort, sie sollen gefälligst shoppen. Die Züge kommen sowieso zu spät oder stehen in den wenigen noch vorhandenen Werkstätten.

Den Verfall einer Kultur bemerkt man zuerst am sprachlichen Niveauverlust. Einrichtungen wie Mehdorns ›Service Point‹ sind legendär. Angeblich spricht man dort sogar noch deutsch. Was mich viel mehr betrübt ist, wenn ich bemerke, daß auch Menschen, die noch Anliegen jenseits von Gewinnmaximierung haben, nicht mehr auf ihre Sprache achten. Da nennt sich ein ambitioniertes, von der Bundesregierung, von der EU, von taz und zitty und vielen anderen gefördertes Neuköllner Kulturfestival Nacht und Nebel und greift damit eine verbrannte Formulierung des Nazis auf. Vor fast siebzig Jahren wurden unter diesem Motte Regimekritiker verschleppt und ermordet. Heute gondeln Taxis ahnungsloses Amüsiervolk von einer Galerie zur nächsten. Daß wahrscheinlich niemand bei Benennung des Festivals, das zwei Tage vor dem Jahrestag der Reichpogromnacht 1938 stattfindet, von der unguten Bedeutung wußte, bestürzt mich am meisten. Geschichte wird vergessen, verdrängt. Der 9. November hat ein Freudentag zu sein. Und die Lämmer wählen ihre Schlächter immer selber.

Ich habe Kopfschmerzen. Vielleicht kündigt sich eine Erkältung an. Vielleicht auch nicht. Oder, wie es die Goldene Zitronen auf ihrem großartigen, neuen Album Die Entstehung der Nacht sagen: »Bloß weil ich friere, ist noch lang nicht Winter.«

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