Alice

thiloliestimgartenUnlängst las ich ein Buch. Ein dünnes Buch. Ein Samstagnachmittagsbuch. Ein leichtes Buch, trotz des düsteren Themas. In ihm sterben nämlich fünf Männer. Zwei sind genaugenommen schon gestorben. Einer lange vor der Handlungszeit, der andere irgendwann zwischen Kapitel drei und vier. Wenn es denn Kapitel sind. Es könnten auch Erzählungen sein. Episoden. Jede widmet sich einem dieser Männer.

Die ersten beiden kannte ich. Literatur greift immer auf das Leben zurück. Sollte sie jedenfalls. Schon seltsam, wenn der Lesende die Vorbilder von literarischen Gestalten kennt und zwar nicht aus dem Fernsehen oder vom Hörensagen her und auch ohne mit der Autorin bekannt zu sein. Sie kennt mich gar nicht und ich sie nur aus der Ferne. Ich sah sie sprechend auf einer Bühne sitzend, an der Kasse eines Biomarktes, beim Eisessen und auch auf der Beerdigung des ersten Toten in ihrem Buch. Den kannte ich auch nicht besonders gut, immerhin standen wir aber ein paar Mal zusammen beziehungsweise hintereinander auf Bühnen.

Den zweiten Toten kannte ich noch weniger, habe ihn vermutlich aber häufiger gesehen, denn ich habe bei ihm studiert. Ein Professor, den ich anfangs sehr schätzte, was leider nicht auf Gegenseitigkeit beruhte. Die Zwischenprüfung bei ihm war eine Katastrophe. Gestorben ist er ausgerechnet an meinem Geburtstag, Jahre später, da hatten er und ich die Uni beide schon verlassen. Er emeritiert, ich immerhin promoviert.

Nun begegne ich ihm wieder. Wenn ich nicht vorher gehört hätte, daß er das Vorbild für diese Figur ist, ich hätte es nicht bemerkt. Genausowenig wie bei dem ersten Toten. Man erwartet eben nicht, einem irgendwie bekannten Menschen in einem literarischen Text zu begegnen. Da sie Literatur geworden sind, haben sie sich ohnehin verändert. Dennoch ist es befremdlich, als einigermaßen Außenstehender überhaupt zu wissen, wer hier gemeint ist. Das steht nicht im Buch, das weiß ich aus einer Kritik. Und die Kritik weiß das offenbar aus einem Interview mit der Autorin, das ich inzwischen auch gelesen habe, nachdem ich nach meinem toten Professor gegoogelt habe.

grillIm Buch erfährt man nicht viel über das Leben der Toten. Das muß auch nicht sein, sie sind schließlich gestorben. Erzählt wird auch eher von den Hinterbliebenen und zwar aus der Sicht einer Frau, Ähnlichkeiten mit der Autorin sind nicht zufällig. Es sind äußere Beschreibungen. Ihr Innenleben, ihre Trauer, ihre Erinnerungen teilt sie nicht mit den Lesenden. Das ist ihr gutes Recht. Literatur besteht auch aus dem Nichtgesagten. Wenn aber Gefühle ausgespart bleiben, breitet sich eine Kälte aus, und das, was gesagt wird, verharrt an der Oberfläche. In Filmen funktioniert das gut. In der Literatur dagegen bleibt nicht viel übrig, allenfalls Ratlosigkeit, während man den Liegestuhl zusammenklappt und den Grill anheizt. An einem Samstagnachmittag.

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