Gestern war Christi Himmelfahrt, also der Feiertag, der dieses Ereignisses gedenkt. Ein guter Grund, mal wieder in die Kirche zu gehen, die Blinkmadonna in der Schrankwandvitrine abzustauben oder auch bloß das Bier kaltzustellen. Denn vor allem Freunde von Peterchens Mondfahrt und Besitzer von Bollerwagen werden sich an diesem Tag stets der zumindest theoretischen Kraft ihrer Lenden bewußt und feiern daher Vatertag. Überall! Jedenfalls in Deutschland! Und in Berlin! Äh, nur nicht im Westmünsterland, das will man jedenfalls meinen. Herrentag auf dem Land. Mein Wecker rief mich wie gewohnt um neun Uhr an den Schreibtisch, ich aber hörte nicht auf ihn und schaltete lieber erstmal das Radio ein. Mein Kopf dröhnte vor extremer Nüchternheit, in meinen Nebenhöhlen gluckerte es und mein Hals war belegter als die Liegestühle im Robinsonclub. Mit letzter Kraft hangelte sich meine Aufmerksamkeit ansatzweise durch das Programm von WDR5. Es fing mit einem Zeitzeichen über die Gründung der New Yorker Börse an, was so spannend gewesen sein muß, daß mein Körper sogleich in den Standbymodus wechselte. Aus dem schreckte ich erst auf, als die Übertragung eines Gottesdienstes angekündigt wurde, dem ich mich aber nun wirklich nicht gewachsen fühlte, weshalb ich ihn alsbald durch das Drücken eines anderen Stationsknopfes auf meinem Radio abbrach. Doch auch auf Deutschlandfunk begann gerade eine Messe. Daher drückte ich den dritten Knopf auf dem Radio, den ich bislang noch gar nicht ausprobiert hatte. Und was kam? WDR4 mit astreinen deutschen Schlagern von Kapellen wie Tanzpalais mit Rosanna, du warst die erste große Liebe, Rosanna, ich habe so an uns geglaubt, und der High Life Skiffle Group mit Hey hey Marlene. So was löst bei mir selbst im Zustand innerer Verschneckung gute Laune aus und erinnerte mich an eine lustige Autofahrt von Münster nach Berlin, wo wir uns von Schlagersender zu Schlagersender hangelten bis sich vor Berlin kein vernünftiger mehr einstellen ließ, weil 88,8 ja jetzt lieber auf Hauptstadtfunk macht und die gleiche trübe Brühe spielt wie all die anderen Metropolendudler. Ich sah mich schon fast in der Lage, der Bettdecke zu entkommen, um lecker Salbeitee zu kochen, den ich in einem prophetischen Anfall am Vortag bei Schlecker gekauft hatte (denn man kann ja nie wissen!), als ich aus einem vergessenen Grund um elf Uhr wieder zu WDR5 wechselte. Nach den Nachrichten begann Der philosophische Radio-Salon und der Moderator hub an zu erzählen, wie man den Hirntod eines Menschen feststellt: u.a. wird zu diesem Zweck ein Stäbchen in den Rachen der angenommenen Leiche gesteckt. Und wenn diese nicht zu würgen und zu husten beginnt, geht man davon aus, daß sie wirklich tot ist. Im Folgenden wurde fast eine Stunde lang und das ziemlich lebhaft mit dem Publikum über Oganspenden gesprochen, aber nicht über die lebensrettenden Vorteile, wie ich das schon häufiger gehört habe, sondern mit sehr viel Skepsis, man wisse schließlich nicht, wann ein Mensch wirklich tot ist. Und die Vorstellung, eines anderen Menschen Organ in sich zu tragen, war für einige der Anwesenden auch gräulich. Was für ein Herrentag! In Berlin hätte ich jetzt vielleicht irgendwo gesessen, gegrillt und gegessen, hier aber dachte ich bei einer Tasse Salbeitee über die Vergänglichkeit menschlichen Seins nach. Eigentlich ist mir egal, was mit meinen Organen passiert, wenn ich damit jemanden helfen kann, ist das doch gut, zumal ich ja sicher sowieso verbrannt werde. Dennoch habe ich keinen Organspenderausweis. Derzeit wird ja darüber nachgedacht, das entsprechende Gesetz einfach zu ändern, so daß man fortan einen Hinweis bei sich haben müßte, daß man es nicht wünscht, ausgeschlachtet zu werden, weil ansonsten die Bereitschaft des Toten einfach vorausgesetzt wird. Das wiederum finde ich auch ziemlich arg. Und niemand von uns weiß, ob wir nach dem Tod nicht doch weiterleben. Und wenn einem dann wichtige Organe fehlen, könnte es schwierig werden beim Festbankett im Jenseits. Bei mir stand die Stimmung also mehr Richtung Himmelfahrt als gen Vatertag, doch wollte ich daran schleunigst etwas ändern, weshalb ich beschloß, es der Sonne gleichzutun und etwas rauszukommen, also durch die Gegend zu radeln um vielleicht die Feierbräuche hiesiger Zeugungsfähiger beobachten zu können. Aber es hatte sich eine extreme Ruhe über das Land gelegt. Auf einigen Terrassen saßen zwar Menschen bei Kaffee und Kuchen und ein Mann ließ nahe des Sendeturms einen Drachen steigen, doch war dies lediglich das Plastikfolientier seines neben ihm stehenden Sohnes. Ich passierte die Zentrale Unterbringungseinrichtung, vormals eine Kaserne der NATO, diverse Windkraftanlagen, die Bergkapelle sowie einen begehbaren Mobilfunkmast, auf dem, allerdings ganz unten die Hauptstadtmafia ihren Sticker hinterlassen hatte. Von solch einer Institution hatte ich, der Pate vom Tiergarten, ja noch nie was gehört. Ich spuckte verächtlich aus und fuhr weiter. Plötzlich befand ich mich im Gewerbegebiet Nord. Mit einem Ziel im Hinterkopf, hätte ich mich wohl verfahren gehabt, so aber fuhr ich einfach weiter umher, vielleicht würde ich dann ja noch ein paar saufende Halbwüchsige bei einer Vatertagssimulation entdecken. Doch was soll ich sagen? Sollte gestern Nachmittag jemand im Landkreis Borken Alkoholmißbrauch betrieben haben, dann muß er das äußerst heimlich vollzogen haben, oder die Jungs waren schon hinüber, als ich noch über den Hirntod nachgedacht habe. Dann aber sah ich, halb hinter einer Hecke verborgen, eine Wegweisertafel mit der Aufschrift „Auschwitz 969 km“ und ich ahnte, daß ich wieder zu Hause war, jedenfalls nahe der kunstvollen Institution, die mir in diesen Wochen ein Zuhause ist. Innere Verschneckung (priv.): extreme Schleimproduktion und Verlangsamung sämtlicher Körperfunktionen.