Reichstagswrap

IMG_4941Heute vor zwanzig Jahren haben Christo und Jeanne-Claude damit begon­nen, den Reichstag zu verhüllen. Zwei Wochen später habe ich mich morgens um halb vier Uhr in eine Schlange von 6.000 Irren eingereiht, die einmal um das Gebäude reichte, um mir eine wrapped Reichstag-Graphik von dem Verhüllerpaar veredeln zu lassen. Arrogant wie ich mit 22 war, spotte ich damals zwar, das sei „Publikumsverarschung im breitesten Sinne“ und zweifelte an, ob Einpacken wirklich Kunst sein könne. Wenn man wisse, was einen erwartet, brauche man keine Hülle mehr. Gleichzeitig freute mich das „Mega-Happening“, an dem fünf Millio­nen teilnahmen, friedlich und gelassen, offenbar gut gelaunt. Ein Volksfest ohne Amü­sierzwang. Immerhin, so endet mein Tagebucheintrag vom  Juli 1995: „Kunst zum Anfassen, die vielleicht keine Kunst ist, wenn nicht gerade das die Kunst ist.“

So sehe ich das heute viel mehr. Gleichzeitig glaube ich, dass diese Aktion heute gar nicht mehr so gut funktionieren würde. Im Sinne der Berlinvermarkter natürlich schon. Wahrscheinlich kämen zehn mal mehr so viel Menschen und es gäbe ebenso viele Tweets und Fotos im Netz. Trotzdem: Vor zwanzig Jahren war der Reichstag noch ein Relikt des Krieges, keine Ruine mehr, aber eben noch nicht der Sitz des Deutschen Bundestages.

Seitdem hat sich vieles verändert. Allein die Sicherheitsvorkehrungen würden einiges an Gelassenheit verhindern. Und dass sich Tausende mitten in der Nacht für zwei Unterschriften anstellen, kann ich mir jedenfalls so auch nicht mehr vorstellen. Wahrscheinlich kämen zehnmal so viel, das Fernsehen wäre live dabei inklusive Unterhaltungsprogramm. Die einzige Unterhaltung vor zwanzig Jahren war das Gefühl, eine außerordentliche Aktion mitzumachen.

Mehr Kunst war gar nicht nötig. Das vergilbte, eingerissene, aber signierte Blatt und das Stückchen von dem Einwickelstoff sind meine persönlichen Erinnerungsstücke an ein Kunstwerk, das vielleicht sogar besser wird, je länger es bloß noch im kollektiven Gedächtnis derjenigen existiert, die damals dabei gewesen sind.

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