Zugegeben, ich bin Insasse einer Heil- und Pflegeanstalt für Autorennachwuchs, einem Haus, in dem ein ganz Großer einst mit Wucht geschrieben und gelebt hat.
An dem Tag, an dem Günter Grass gestorben ist, saß ich in seinem ehemaligen Arbeitszimmer, einem barocken, saalartigen Raum mit glasierten Bodenfliesen, im Rücken ein lange stillgelegter, auf 1698 datierter Kamin, vor den Fenstern die Wewelsflether Dorfkirche von 1593. Der freie Blick wird behindert von einem noch blattlosen Walnussbaum, den Grass 1974 anlässlich der Geburt seiner Tochter Helene gepflanzt hat.
An dem Tag, an dem Günter Grass gestorben ist und ich in seinem vormaligen Zimmer saß, habe ich nicht geschrieben. Ich habe ferngesehen – in dem Zimmer, in dem er am Butt-Manuskript gearbeitet hat! Jetzt steht da, etwas verschämt in der Ecke, ein riesiger Flachbildschirm. Den habe nicht ich dort platziert, das geschah im Auftrag der Akademie der Künste, deren Präsident Grass einst war und der er das Haus, in dem ich derzeit wohnen darf, vor dreißig Jahren geschenkt hat. Weiterlesen
Zugegeben, …


Bei den Mülltonnen steht ein alter, kaputter Koffer. Dem Reiseetikett zufolge war ein Mitglied der Familie Grass damit in Portugal. Vielleicht sogar Herr Günther persönlich, die Handschrift sieht allerdings eher weiblich aus. Der Koffer ist auch leer. Kein altes Manuskript steckt darin, nicht einmal ein Schnauzbarthaar. Dennoch soll Hausmeister P. erwogen haben, den Koffer an Literaturfreaks zu verkaufen.
Heute mal auf der anderen Seite der Stör gewesen. Früher gab’s mal ’ne direkte Fährverbindung zwischen Wewelsfleth und Borsfleth, die haben sie aber eingestellt, als in den siebziger Jahren das Störsperrwerk, die Brücke an der Flußmündung, gebaut wurde. In Borsfleth steht direkt neben der Kirche ein niedliches altes Haus, an dem eine Tafel angebracht worden ist: Hier hat von 1981 bis 1996 Helmut Heißenbüttel gewohnt. Wahnsinn, Helmut Heißenbüttel!
Jetzt bin ich also angekommen und habe Quartier bezogen, knapp hinterm Deich. Das Örtchen hat ungefähr eineinhalbtausend Einwohner, einen eigenwilligen Namen (nämlich Wewelsfleth), eine Werft, eine Dönerbude, eine Mehrzweckhalle, eine Kneipe, zwei Restaurants, einen Friseur, eine Bäckerei, einen Weinladen, eine Einrichtung für Suchtkranke, eine Sparkasse, einen Blumenladen, ein Elektrofachgeschäft, mindestens drei Zigarettenautomaten und zwei Edekas. Zwischen den beiden Supermärkten paßt nur ein schmaler Parkplatz und ein dreihundert Jahre altes, etwas schief wirkendes Haus, das vor fast vierzig Jahren von einem grimmigen Großschriftsteller mit noch größerem Gewissen gekauft und somit vor dem Abriß bewahrt worden ist. Als 1986 das nur fünf Kilometer entfernte Atomkraftwerk Brokdorf ans Netz ging, verließ der Schnauzbart den Ort, hinterließ in der Tiefkühltruhe eine Ratte und dem Berliner Senat das Haus, auf daß dieser in der eingemauerten Stadt lebende Autoren dorthin landverschickte, jeweils drei zur gleichen Zeit. Die Mauer ist längst weg, ich aber bin jetzt hier. Wenn man mit dem Fahrrad am Deich entlangfährt, immer geradeaus, ohne die Möglichkeit abzuzweigen, steigt in einem auch ein gewisses Mauergefühl auf. Allerdings ist diese Begrenzung grüner und es weiden Tiere drauf.