Zugegeben, ich bin Insasse einer Heil- und Pflegeanstalt für Autorennachwuchs, einem Haus, in dem ein ganz Großer einst mit Wucht geschrieben und gelebt hat.
An dem Tag, an dem Günter Grass gestorben ist, saß ich in seinem ehemaligen Arbeitszimmer, einem barocken, saalartigen Raum mit glasierten Bodenfliesen, im Rücken ein lange stillgelegter, auf 1698 datierter Kamin, vor den Fenstern die Wewelsflether Dorfkirche von 1593. Der freie Blick wird behindert von einem noch blattlosen Walnussbaum, den Grass 1974 anlässlich der Geburt seiner Tochter Helene gepflanzt hat.
An dem Tag, an dem Günter Grass gestorben ist und ich in seinem vormaligen Zimmer saß, habe ich nicht geschrieben. Ich habe ferngesehen – in dem Zimmer, in dem er am Butt-Manuskript gearbeitet hat! Jetzt steht da, etwas verschämt in der Ecke, ein riesiger Flachbildschirm. Den habe nicht ich dort platziert, das geschah im Auftrag der Akademie der Künste, deren Präsident Grass einst war und der er das Haus, in dem ich derzeit wohnen darf, vor dreißig Jahren geschenkt hat.An dem Tag, an dem Günter Grass gestorben ist, liefen unzählige Nachrufe auf ihn und um 20 Uhr 15 verzichtete die ARD sogar auf Tierdokumentation und Streitshow. Stattdessen lief Die Blechtrommel. Eine immer noch gute Verfilmung eines umso besseren Buches. Als ich es vor zwanzig Jahren zuletzt gelesen habe, hielt ich es für das Beste der zweiten Hälfte des Jahrhunderts. Am Film hat mich stets eins gestört: Der Verzicht auf den letzten Teil, der die bundesrepublikanische Nachkriegszeit karikiert. Ich werde das Buch wohl mal wieder zur Hand nehmen. Glücklicherweise ist hier im Haus ein Exemplar vorhanden. Der einzige Roman übrigens, den noch niemand aus der kleinen Bibliothek entwendet hat und das ich gestern ins Fenster neben der Eingangstür gestellt habe. Dazu habe ich ein Bild seines Autors an die Scheibe geklebt. Einer musste es ja machen.
Ein Passant sprach mich daraufhin an und wir trauerten ein paar Sätze lang um den Toten, bis der Mann sagte, dass er seine Aktion damals mit dem Türken Ali ja wirklich großartig fand. Aber das nur nebenbei.
An dem Tag, an dem Günter Grass gestorben ist, haben die Journalisten sein Leben eher von hinten erzählt. All die Fragwürdigkeiten seiner letzten Jahre nahmen großen Raum ein. Und so ist ja auch unsere Wahrnehmung des Nobelpreisträgers, dessen letztes Großwerk vierzig Jahre alt ist und das er in dem Raum geschrieben hat, in dem ich auch heute wieder sitze und dies hier schreibe. Grass galt als Moralist, aber Moral ist keine literarische Kategorie. Selbst ein autobiographisch geprägtes Werk wie Die Blechtrommel steht unabhängig von der Person des Autors. Auf Die Blechtrommel können sich alle einigen. In den Tagesthemen hat ARD-Großkritiker Dennis Scheck – zurecht – von deren ersten Satz geschwärmt. Zitiert hat er ihn ziemlich falsch, das entscheidende Anfangswort »Zugegeben« hat er gleich mal unterschlagen. Verzeihlich, für die heutige Medienwahrnehmung von Literatur trotzdem symptomatisch.
Nach dem Tag, an dem Günter Grass gestorben ist, können wir uns in Bezug auf ihn endlich wieder auf das konzentrieren, was ihn groß gemacht hat: sein Werk.