Hier ist Berlin!

Heute vor 50 Jahren ging die ZDF-Hitparade auf Sendung. Bevor ich ihr regelmäßiger und leidenschaftlicher Zuschauer wurde, sollten noch einmal gut zehn Jahre vergehen. Aber heutzutage lässt sich auch längst Vergangenes zurück auf den Bildschirm zaubern. Daher erlaube ich mir eine oberflächliche und doch beispielhafte Betrachtung.

Ich war elf, als Dieter Thomas Heck bekanntgab, nicht länger die Hitparade im Zett De Eff moderieren zu wollen. Ein Schock für mich, der ich – sehr oft bereits im Schlafanzug – keine Folge dieser einmal im Monat ausgestrahlten Musikshow verpasst hatte. Ich weiß nicht, was mir an Dieter Thomas Heck gefiel. Der Mann redete viel zu schnell, besaß die Ausstrahlung eines Seifenspenders und hielt sein Mikrofon stets so, als würde es müffeln.

Hier sang man deutsch. Auch Stammstars, die von woanders herkamen, mussten sich durch die Konsonanten knödeln: Howard Carpendale, Roger Whittaker, Mireille Matthieu – und natürlich Gitte! Die blonde Dänin mit den gewagten Frisure und den frechen Texten – freu dich bloß nicht zu früh, ich will alles, ich will alles und zwar sofort – gefiel mir sehr. In die war ich wohl ein bisschen verknallt. Außerdem herrschte Neue Deutsche Welle, die kurzfristig den Schlager so aussehen ließ, wie er war: verdammt alt. Plötzlich sangen blutjunge Menschen in seltsamen Outfits fröhliche Lieder. Da da da wird wieder in die Hände gespuckt, völlig losgelöst, ich will Spaß, ich will Spaß, ich fahr Taxi, ich seh den Sternenhimmel und ich düse düse düse düse im Sauseschritt und bin ja so verschossen, in deine Sommersprossen, ich werd mal zu dir rübergehnirgendwie, irgendwo, irgendwann

Ach ja, Nena. Nena fanden viele toll. Meine Mutter dagegen meinte, Nena könne nicht singen. Ich fand das daher auch und erst viel später heraus, wie wenig es auf solche Nichtigkeiten ankam. Mein bester Freund besaß sogar ein Autogramm von Nena, weil er mal Zuschauer der Sendung gewesen war. Die Hitparade kam nämlich live aus Berlin! Aus West-Berlin! Damals etwas besonders. Berlin galt in der BRD nicht so wahnsinnig viel und musste häufig bloß als Symbol herhalten. Deshalb waren wir so stolz auf alles, was aus Berlin kam, selbst wenn’s der letzte Scheiß war. Das galt auch und im besonderen für die Hitparade. Im Dezember 1984 beendete Dieter Thomas Heck seine Hitparaden-Karriere, indem er zwar sich nicht vom deutschen Schlager, aber von der Stadt verabschiedete und ein Lied sang, das so anbiedernd wie peinlich war. Schon bei dem Wort ›Berlin‹ fange er zu träumen an, und überhaupt sei »Berlin das Herz der Welt«. Er habe »der Stadt so oft in ihr Gesicht geseh’n / blieb vor dem Lächeln und auch vor den Narben steh’n«.

Zum Dank saß der Regierende Bürgermeister Eberhard Diepgen brav in der ersten Reihe. Sein Vorgänger Richard von Weizsäcker war gemeinsam mit Stellvertreter Heinrich Lummer anlässlich einer früheren Jubiläumssendung ebenfalls mal im Studio gewesen. Im Studio Eins der Berliner Union-Film, kurz: UFA. Da konnte man durchaus wehmütig werden als eingefleischter Frontstädter. Hier hatte Heinz Rühmann noch vor der Kamera gestanden, als draußen längst der letzte Kampf um Berlin tobte. Und jetzt hockte in jeder Sendung stellvertretend für alle Trümmerfrauen die sogenannte »Hitparadenoma« Frieda Zölle, eine 1902 geborene Dame mit dicker Brille und pastellfarbenen Kleidern.

Auf Heck folgte Viktor Worms, der für seine Hitparadenpremiere das erste Mal nach Berlin gekommen war. Viktor Worms – selten sah ein Mann so aus wie er hieß. Aber irgendwie passte seine unbeschwert belanglose Art gut zu der Musik, die bald neben zeitlos schlechten Schlagern vor allem aus Retortenprodukten von Leuten wie Michael Cretu, Ralph Siegel und Dieter Bohlen bestand. Bohlen hatte auch den neuen Vorspann zur Sendung unterdudelt. Sandra, immer wieder Sandra, C.C. Catch und Chris Norman, Blue System und Bad Boys Blue. Und dazwischen ein dauergrinsender, überschminkter, magersüchtiger Moderator mit dem Esprit einer lila getönten 30 Watt-Glühbirne. Im Publikum saßen die schlecht aussehendsten Menschen der 80er Jahre, klatschten stupide mit, während minderjährige Mädchen und vermutlich schlecht bezahlte Volljährige den Singenden in Zellophan verpackte Blumen und Teddybären überreichten und dafür ein Küsschen auf die Wange bekamen. Zum Beispiel von David Hasselhoff. Dessen Looking for Freedom« war schon vom Thema her der Hit des Jahres 1989.

Jetzt mussten die Lieder nicht mehr deutsch gesungen werden, solange deutsche Produzenten daran verdienten. In der Hitparade traten die angeblich erfolgreichsten Interpreten des Monats gegeneinander an, ermittelt von der sagenumwobenen Geheimorganisation Media Control. Den jeweiligen Sieger bestimmte das Publikum. Eine Zeitlang war das der sogenannte TED, eine Gruppe zufällig ausgewählter Fernsprechteilnehmer, aber ab und an versagte die Technik. Ende der 80er wurde daher mittels auf Postämtern (!) erhältlichen Karten gewählt, nachdem man sich unter einer Servicenummer zum Ortstarif eine Woche lang die Vorschläge hatte anhören können. Die damals staatseigene Post stiftete zum Dank manchmal die Preise. Zum Beispiel ein nagelneues BTX-Gerät – ein Telefon mit Bildschirm und Tastatur zur Nutzung des bahnbrechenden Bildschirmtextes. Glücksfee spielen durfte jeweils ein Prominenter beziehungsweise so Leute wie Brigitte Mira, Günther Pfitzmann und Frank Zander. Das wirklich Schockierende daran: Das waren zu dieser Zeit echte Stars! Na ja, Berliner Stars natürlich nur.

Dazu zählte auch Hugo Egon Balder. Dessen Hitsingle Erna kommt war im Original von der Zonenberühmtheit Wolfgang Lippert gesungen worden. Balders größter Coup schien gewesen zu sein, ein leeres Notenblatt bei der GEMA anzumelden. Seither war er für alles zuständig, was niveaumäßig unter Da Da Da abzüglich dessen Subversivität landete. In einer Hitparade von 1988 sang Balder die eingedeutschte Version des Welthits Don’t worry, be happy. Balders Titel: Nimm’s easy, sei happy.

Eine Sonderausgabe – die Sommer-Hitparade – kam 1987 live von einem Wannseedampfer. Zu Beginn flog Viktor Worms im Hubschrauber an. Am Reichstag startend, zeigte er den Zuschauern die sich damals zum 750-jährigen Jubiläum herausputzende ehemalige Reichshauptstadt aus der Perspektive eines Bomberpiloten. Schön sah das nicht aus. Der jugendlich blasse Regierende Bürgermeister Eberhard Diepgen – vor dem Mauerfall der Grüßaugust für amerikanische Präsidenten und die englische Königsfamilie – war auch mal wieder zugegen, und im Schlepptau des Dampfers tuckerten zahlreiche Boote mit in den Sonnenuntergang, während sich am Strandbad Wannsee Berlinerinnen und Berliner sammelten, um mit Hugo Egon Balder Pack die Badehose ein anzustimmen. Det is Berlin!

Drüben im Westen konnten sie sich davon überzeugen, dass die Frontstädter nüschte zu tun hatten, nicht singen konnten und ansonsten ein feines Leben führten. Mittels Berlinzulage, dem Solizuschlag des Kalten Krieges, waren sie ja fein alimentiert. Und wenn man an Isar, Donau, Neckar, Rhein, Mosel oder Ruhr zudem Berlins Schauspielstars erleben musste – ich schätze Harald Juhnke und Ilja Richter kamen auch mal zu Wort –, war man gewiss heilfroh, mit diesem skurrilen Trümmerberg inmitten der noch unheimlicheren Ostzone sonst nichts gemein zu haben. Die Bonner Parlamentarier, die 1991 für den Umzug der Bundeshauptstadt gestimmt haben, kamen entweder aus dem Osten oder haben nie die Hitparade im Zett De Eff geguckt. Historisch betrachtet ein folgenschwerer Fehler.

Mit dem Kalten Krieg war dann aber auch die schöne Zeit der Hitparade vorbei. Auf Viktor Worms folgte Uwe Hübner, ein gelocktes Bürschchen aus Pforzheim. Jetzt gab es Televoting für alle und die Frage, wie manipulierbar dieses sei. Antwort: Nur ganz bösen, bösen Betrügern sei so etwas möglich und die wolle man nicht als Zuschauer. Also bitte nicht mehr anrufen! Und sah der Vorspann Anfang 1990 noch aus wie eine Westberliner Imagewerbung, fehlte der Berlinbezug bereits in der ersten Folge nach der Wiedervereinigung im November. Die Hitparade war zu einer ganz normalen, langweiligen Schlagersendung geworden, die zehn weitere Jahre existierte, bis sie zusammen mit ihrem Publikum still und leise verschied. Selbst die Hitparadenoma war zwei Jahre zuvor gestorben.

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