Die Fähre fährt schon lange nicht mehr. Böse Zungen behauptet, dies habe Wewelsfleths damals prominentester Bewohner, der Großschriftsteller Günter Grass veranlaßt, als er hörte, daß der Dichter Helmut Heißenbüttel in den Ort auf der anderen Seite der Stör ziehen wollte. Er habe sogar mit einem Willy Brandt-Satz gedroht. Was aber Blödsinn ist. Da hat das andere nichts mit dem einen zu tun. Der Fährbetrieb wurde 1981 eingestellt, weil es seit Mitte der siebziger Jahre und in nur ein, zwei Kilometer Entfernung das Störsperrwerk gibt, über das eine Straße führt, und im vier Kilometer entfernten Beidenfleth überquert die Seilfähre Else den Fluß.
Die Ablegestellen gibt es natürlich weiterhin in Wewelsfleth und gegenüber. Hier kann man bei Flut auch prima schwimmen gehen. Oder man bestellt beim Hafengrill eine Dönerschorle und schaut den riesigen Tankern, die an der Werft vor Anker liegen, beim Liegen zu.
Gestern, der Hafengrill hatte schon längst seine Klappe geschlossen, doch es war so ein lauschiger Sommerabend, weshalb ich auf einer Bank am Ufer sitzenblieb, kam eine frische Brise auf, und mit einem Mal bemerkte ich, daß sich jemand neben mich gesetzt hatte: ein alter Mann. Als er sich meiner Aufmerksamkeit sicher war, ließ er ein kurze keckerndes Lachen hören und fragte dann mit hoher, zahnloser Stimme, ob ich auch auf die Fähre wartete. Oje, dachte ich, da hat wohl einer sein Mittelzeitgedächtnis verloren. Um jedoch nicht irgend etwas in ihm zu zerstören, was mich im ungünstigsten Fall dann auch in wie auch immer geartete Schwierigkeiten bringen würde, sagte ich ihm, ich säße nur so hier und wisse daher nicht, wann die Fähre fahre. Das habe er auch gar nicht gefragt, raunzte der Mann, ihm sei schließlich bekannt, daß nur wenn der Neumond seinen Zenit erreicht habe, eine Überfahrt erfolge. Neumond?! konterte ich, da sieht man doch gar nichts! Du bist wohl nie mit ihr gefahren? Seine Stimme überschlug sich. Nein, sagte ich, wieso auch, dort drüben ist doch nichts, nur Wiesen, und dahinter kommt irgendwann Borsfleth, das ist ganz schön, aber ich war da mal mit dem Fahrrad, wenn man davon absieht, daß da sonntags mehr Leben ist, als hier in Wewelsfleth, da gibt’s ja sogar einen Biergarten, in dem Menschen sitzen, das habe ich hier. Schweig! Der Alte hob drohend die Hand und ich verstummte augenblicklich. Seine Hand war weiß, gegen den dunkler werdenden Himmel gehalten, schien sie quasi zu leuchten.
In jeder Neumondnacht findet drüben in der abgerissenen Scheune der Totentanz statt. Noch mehr als ihr düsterer Klang machte mir der Inhalt seiner Worte Angst. Totentanz? In einer abgerissenen Scheune? Und dann bot er mir auch noch an, mich beim nächsten Mal mitzunehmen, da hätte ich bestimmt Spaß. Das wollte ich zwar arg bezweifeln, wagte es jedoch nicht.