Donnerstagabend war ich bei der Eröffnung der Ausstellung der vier Wettbewerbsprojekte für den Preis der Nationalgalerie für junge Kunst im Berliner Hamburger Bahnhof. Mein Kunstbegriff hört ja irgendwo in der klassischen Moderne auf, Ausnahmen bestätigen die Regel, aber Vorurteile sind eben nur erlaubt, wenn man sie regelmäßig überprüft. Zudem durfte ich meine beiden Lieblingskünstlerinnen vom Labor K1 begleiten, die sogar Sekt dabei hatten, damit ich nicht ganz so enttäuscht wäre, an einer Vernissage teilzunehmen, auf der weder Sekt noch Schnittchen gereicht würden.Der Hamburger Bahnhof ist ein erhabenes Gebäude, in dem man als phasenweise Kulturkonservativer eigentlich gar keine Contempory Art (wie wir globalisierten Kunstcharacter sagen) vermutet, weshalb wohl auch drei der vier Projekte in irgendeinem schäbigen Nebenbau mit Lagercharakter präsentiert wurden. Dort, wo ich sonst so zum Lachen in den Keller gehe, sieht es allerdings anders aus. Lediglich das Werk von Tino Seghal fand im ersten Stock statt, und es gab sogar was zu lachen, jedenfalls im Ansatz. This Situation ist ein flüchtiges Kunstwerk, keins das man sich in Wohnzimmer stellen könnte, weil es lediglich aus einer Situation besteht oder eigentlich aus mehreren aneinandergereihten, jeweils eingeleitet durch die im Chor gesprochenen Worte »Welcome to this situation!«. Man betritt also einen großen, hell beleuchteten Raum, leer bis auf die Menschen, die darin stehen, und irgendwer redet auf englisch und ein anderer löst ihn dabei ab. Viele der Beiträge beginnen damit, daß irgend jemand in einem bestimmten Jahr (oft genannt wird 1984) etwas Bestimmtes gesagt hat. Nach einer Weile machen mehrere Münder ein seltsames kollektives Geräusch, das wie Saugen oder Spulen klingt, und dann bewegen sich mehrere Menschen rückwärts an einer Wand entlang, verrenken sich, verharren in einer Pose und sagen wieder: »Welcome to this situation!« Dann geht’s quasi von vorne los nur mit anderem Text. Zwischen den Performern entstehen kurze Dialoge, wie sie wohl am ehesten auf Parties stattfinden, nur daß die Sprechenden nicht beieinandersitzen oder stehen, sondern sich – ohne dabei übermäßig laut zu sein – quer durch den Raum unterhalten und dabei die zwischen ihnen stehenden Zuschauer anscheinend ignorieren. Nach einigen Neustarts hat man die Werkbeteiligten erkannt, da sich diese immer rückwärts an der Wand entlang bewegen. Es sind drei Frauen und drei Männer unterschiedlichen Alters, von denen ab und an jeweils eine Person ausgewechselt wird. Das ist ein bißchen bedauerlich, denn wirklich irritierend wäre die Performance, wenn man die Performanten nicht identifizieren könnte. Das allerdings könnte die trotz allem vorhandene Trennung von Publikum und Kunstwerk tatsächlich sprengen, weil dann nicht unbedingt mehr klar wäre, wer wirklich beteiligt ist, so daß alle Anwesenden zu Beteiligten würden und die Hemmschwelle, sich an der Diskussion zu beteiligen, sicher sänke. An sich eignete sich das Werk natürlich schon für einen Privatinvestor: Dienen abstrakte Gemälde schon lange vermehrt als dekorativer Wandschmuck, ließe sich so jeder Partysmalltalk gewiß aufmotzen. Als wir nach über einer Stunde zurück in den Raum kamen, waren die Performer inzwischen sichtlich erschöpft und sprachen meistens deutsch und über private Formen von Kommunismus. Zitat: »Mein Kommunismus, dein Kommunismus, Kommunismus ist für alle da!« Ich nehme an, die Dialoge sind im einzelnen nicht vorgeben, vermutlich aber die Zitate und der Ablauf der Performance. Tino Seghal stand im Vorraum und machte sich Notizen. Mich hat das ein wenig neidisch gemacht. Das war kein privater Neid, sondern ein stellvertretender Neid für alle Autoren. Schriebe ein Dramatiker ein Stück für den öffentlichen Raum gäbe es kaum Aufführungsmöglichkeiten und wenn doch, dann würde er damit niemals Kohle machen können, egal wie gut sein Werk ist. Und auch eine Improvisationstheatertruppe hätte ihre Schwierigkeiten mit einem derartigen, trotz wechselnder Inhalte doch redundanten Stück Aufmerksamkeit zu erregen. Tino Seghal dagegen gilt als einer der vielversprechenden jungen deutschen Künstler und vermutlich wird er auch den mit 50.000 Euro dotierten Preis bekommen, denn die Werke seiner drei Mitbewerber sind eher zu vernachlässigen, ich habe jedenfalls keine Lust, sie zu beschreiben, auch wenn ich mich dabei auf jeweils einen Satz beschränken könnte. Aber This Situation von Tino Seghal ist zumindest interessant und regt an nachzudenken – über das Werk, aber auch über den heutigen Kunstbegriff. Gewissermaßen ein Nachtrag zum Sturm auf den Elektromarkt liefert heute übrigens Holger Kreitling in der Welt, indem er das konsumistische Massenerlebnis mit dem kulturellen gleichsetzt, womit er nicht ganz unrecht hat. Denn Gedrängel gabs auch gestern Abend im Hamburger Bahnhof und täglich werden mehrere Hundertschaften durch die Ausstellung französischen Impressionisten in der Neuen Nationalgalerie geschleust, wo eine wirkliche Kunstwahrnehmung genaugenommen gar nicht mehr stattfinden kann. Wenn ein originales Kunstwerk im Sinne Walter Benjamins eine Aura hat, dann verliert sie diese spätestens dann, wenn es eigentlich nur noch darum geht, zumindest einen einigermaßen ausführlichen Blick aufs Bild erhascht zu haben, wobei das zu Sehende eigentlich egal ist, Hauptsache man kennt es von Plakaten oder aus einschlägigen Publikation. So gesehen ist ein Werk wie das oben beschriebene nur konsequent, weil es keine kontemplative Betrachtung beansprucht und sogar besser wird, je mehr Rezipienten im Raum stehen, zumal es auch gar nicht mehr nötig ist, auf einen bestimmten Punkt zu schauen, denn diese Kunst ist gewissermaßen dezentral.